Die Sklaven des demokratischen Europas
Menschenhandel ist die Sklaverei unserer Zeit.“ Für die meisten Europäer sei diese Definition keine Überraschung, bemerken Experten. Überraschend könne jedoch die Tatsache sein, dass der größte Teil jener Menschen, die Opfer der Menschenhändler werden, Bürger des geeinten und des sich in jeder Hinsicht als demokratisch betrachtenden Europas sind. Das Thema der Bekämpfung dieses Übels ist im Zusammenhang mit dem in Europa begangenen Tag der Bekämpfung des Menschenhandels erneut in den Vordergrund politischer Diskussionen getreten.
Nach statistischen Angaben werden auf dem Planeten etwa 27 Millionen Menschen gewaltsam ausgebeutet, auch sexuell. Einfacher gesagt, diese Menschen sind faktisch Sklaven. Im Durchschnitt wird in der Welt alle 30 Sekunden ein Mensch Opfer dieser Sklaverei des 21. Jahrhunderts – egal ob Mann, Frau oder ein minderjähriges Kind. Im Jahr 2007 wurde auf Initiative der Europäischen Kommission ein Aktionstag gegen diese, wenn man es so sagen darf, „fossile“ Art von Straftaten verkündet. Er wird vor allem in Europa am 18. Oktober begangen. Sein Hauptanliegen ist es, das Zusammenwirken der staatlichen Strukturen und der gesellschaftlichen Organisationen bei der Bekämpfung dieser gefährlichen und sehr verderblichen Erscheinung zu verbessern und die Bürger besser darüber zu informieren.
Zum diesjährigen Aktionstag hatte die Europäische Kommission einen Halbzeit-Bericht über den Zustand der Bekämpfung des Menschenhandels in den Ländern der EU vorgelegt. Die darin enthaltenen Angaben sind beeindruckend. So wurden im Zeitraum von 2010 bis 2012 in den Staaten der EU 30 146 Opfer des Menschenhandels registriert. 80 Prozent darunter sind Frauen, 16 Prozent – Kinder. Es ist klar, dass die meisten Frauen sexuell ausgebeutet wurden. Aber wie die Rechtsschutzorgane feststellten, wurden auch 1.000 Kinder als Opfer sexueller Ausbeutung registriert.
Im Pressebericht der Europäischen Kommission zur Veröffentlichung des Berichts wird hervorgehoben, dass hinter dieser Zahl menschliche Tragödien, zerbrochene Träume und vernichtete Hoffnungen auf ein besseres Leben stehen würden. Aber wohl ebenso tragisch ist die Tatsache, dass die Maßstäbe des Menschenhandels in dem sich als zivilisiert betrachtenden Europa nicht abnehmen, sondern wachsen. Nach einem ähnlichen Bericht der Europäischen Kommission, der im April 2013 veröffentlicht wurde und den Zeitraum von 2008 bis 20010 umfasste, betrug die registrierte Zahl der Opfer des Menschenhandels 23.632 Personen. Das ist weniger als im Zeitraum 2010 bis 2012, aber um 18 Prozent mehr als in dem Zeitraum davor. Mehr als zwei Drittel dieser Opfer sind Frauen und 15 Prozent – Kinder, vor allem Mädchen. Dabei hat die Zahl jener Menschen, die wegen Menschenhandel verurteilt wurden, in der EU im Zeitraum 2008 bis 2010 um 13 Prozent abgenommen, in Deutschland – sogar um 15 Prozent.
Im Pressebereich der Europäischen Kommission für das Jahr 2014 heißt es, dass 65 Prozent der registrierten Opfer des Menschenhandels Bürger der EU seien. Diesen Aspekt heben die meisten Kommentatoren hervor. Und wirklich, die Führung des geeinten Europas wird nicht müde, von der mustergültigen Demokratie ihres prestigereichen Klubs zu sprechen, vor dessen Türen sich nach wie vor jene drängen, die in ihn aufgenommen werden wollen. Doch vor diesem Hintergrund gedeiht dort weiterhin das grausamste und archaischste kriminelle Business – der Menschenhandel. Mehr noch, nicht alle EU-Länder haben die Richtlinie der Europäischen Kommission von 2011 über die Vereinheitlichung der nationalen Gesetzgebungen in der Sphäre der Bekämpfung des Menschenhandels erfüllt. Gegen Deutschland hat Brüssel sogar ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, da diese Richtlinie dort noch nicht vollständig umgesetzt wurde. Man sieht also, dass die Menschenhändler in der EU noch genug Schirmherren haben.
In naher Zukunft wird Europa, nach allem zu urteilen, in dieser Sphäre zu den eigenen Problemen noch neue hinzubekommen. In der geradezu in die EU drängenden Ukraine, mit der die EU ein Assoziierungsabkommen abgeschlossen hat, werden alljährlich Tausende Fälle registriert, wo Menschen Opfer einer Ausbeutung werden, hauptsächlich sexueller, und zwar im zivilisierten Europa. In den Jahren der Unabhängigkeit der Ukraine wurden mehr als 120.000 Menschen, vor allem Frauen, Opfer des Menschenhandels. Ähnliches kann man über Moldawien sagen. Gerade in den unterschiedlichen „Gewichtskategorien“ der alten und neuen EU-Mitglieder liege die Ursache für das Ansteigen des kriminellen Menschenhandels, meint der stellvertretende Direktor des Instituts für politische und militärische Analyse, Alexander Chramtschichin. Konkret sagte er Folgendes:
Ich kann nur vermuten, dass das wegen der Aufnahme neuer, osteuropäischer Länder, besonders aus dem Südosten Europas geschieht. Und man muss ebenso die sehr hohe Zahl von Migranten aus den Entwicklungsländern berücksichtigen, die immer mehr nach ihren eigenen Gesetzen leben. Es liegt nicht an der Krise.
In der EU-Strategie zur Bekämpfung des Menschenhandels 2012-2016 sind 40 konkrete praktische wie soziale Maßnahmen vorgesehen. Allerdings befürchtet Myria Vassiliadou, die in der Europäischen Kommission die Bekämpfung des Menschenhandels koordiniert, dass in dem künftigen Bericht die Zahl der Opfer der Menschenhändler noch mehr steigen könne. Sie vermutet schon jetzt eine sechsstellige Zahl. Doch Brüssel scheint heute andere Zahlen im Kopf zu haben, insbesondere jene, die mit den Sanktionen gegen Russland verbunden sind. Was soll’s, jeder hat eben seine eigenen Sorgen.
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